Keine einzige mehr

In Polen demonstrieren nach dem Tod einer jungen Frau erneut Zehntausende gegen die rückschrittlichen Abtreibungsgesetze im Land

Gastbeitrag von den feministischen Exil-Polinnen in Kassel

Ende Oktober verstarb in einem Krankenhaus in der südpolnischen Stadt Pszszyna eine 30-jährige Frau an einer Sepsis. Sie war mit einem nicht lebensfähigen Fötus schwanger. Die Ärzte hatten mit lebensrettenden Maßnahmen so lange gewartet, bis der Herzschlag des Fötus nicht mehr zu hören war. Seit Bekanntwerden von Izabelas Tod durchzieht eine Welle von Massenprotesten das Land.

Aus dem Krankenhaus sendete sie an ihre Familie SMS, in denen sie ihre lebensgefährliche Situation beschrieb und die abwartende Haltung der Ärzte kritisierte: „Das Kind wiegt 485 Gramm. Bislang muss ich aufgrund der Abtreibungsgesetze liegen und sie [gemeint: die Ärzte] können nichts weiter tun. Sie werden warten, bis es [gemeint: der Fötus] stirbt oder etwas [gemeint: eine Todgeburt] beginnt, und wenn das nicht eintritt, dann muss ich mit einer Blutvergiftung rechnen.“

In dem Krankenhaus hat augenscheinlich niemand Izabelas Fieber ernst genommen. Ihre Temperatur hatte sie mit einem eigenen Thermometer gemessen. Kurz vor ihrem Tod schrieb sie an ihre Familie: „Das Fieber steigt, hoffentlich bekomme ich keine Sepsis, sonst komme ich hier nicht mehr raus.“ Eine Mitpatientin berichtete später, Izabela habe auch ihr gegenüber geäußert, dass sie sterben könnte. Diese Mitpatientin erzählte der Presse, Izabela habe gesagt, sie wolle leben, sie wolle nicht sterben, sie hätte Menschen um sich, für die sie leben wolle. In einem Krankenhaus, in das sich Izabela auf der Suche nach medizinischer Hilfe begeben hatte, ließen die Ärzte sie sehenden Auges sterben. Kurz nach ihrem Tod suchte ihre Familie Rechtsbeistand und machte den Fall öffentlich.

Polen hat weltweit eines der rückschrittlichsten Abtreibungsgesetze. Die Fristenregelung war bereits mit Ende der Volksrepublik abgeschafft worden. Seit den frühen 1990er Jahren konnten Frauen eine Schwangerschaft nur noch nach einer Vergewaltigung, bei Gefahr für die Gesundheit der Schwangeren und bei embryopathischer Indikation, also einer schweren Erkrankung des Embryos, legal abbrechen. Die letztgenannte Möglichkeit wurde im vergangenen Herbst von einem hochgradig politisierten Verfassungsgericht für illegal erklärt. In Reaktion auf diese Entscheidung fanden bereits im November 2020 Massenproteste statt, die zu den größten in der Geschichte Polens zählen. Die feministischen Demonstrationen, Streiks, Straßenblockaden und Kirchenbesetzungen standen damals unter dem Motto Nun herrscht Krieg (To jest wojna) und waren gegen die regierende rechtskonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość) und den politisierten katholischen Klerus gerichtet.

Bei der aktuellen Protestwelle machen die Demonstrant:innen das politisch-justizielle Klima einer Dämonisierung von Abtreibungen und einer Dehumanisierung und Missachtung von (schwangeren) Frauen für Izabelas Tod verantwortlich – auch wenn ein Abbruch bei Gefahr für das Leben der Schwangeren offiziell weiterhin legal ist. Die Trauer und die Wut über ihren Tod finden in dem Slogan Keine einzige mehr (Ani jednej więcej) einen Ausdruck, der die polenweiten „Trauermärsche für Iza“ in über 80 polnischen Städten eint.

Zu den Demonstrationen in allen großen und in zahlreichen kleinen Städten bringen die Menschen Fotos von Izabela mit. Sie tragen Pappschilder bei sich, auf denen „Auch ihr Herz hat geschlagen“, „Das hätte jede von uns sein können“ oder „Das hätte ich sein können“ steht. In der Dunkelheit halten die Menschen ihre Smartphones in die Höhe. Hell erleuchtet dienen sie als Grabkerzen. Viele Teilnehmende haben Tränen in den Augen. Sie sprechen über ihre große Angst, in Polen schwanger zu werden. Eine Teilnehmerin berichtet, sie hätte sich immer gewünscht, zwei oder drei Kinder zu haben. Nun würde sie davon absehen, weil sie Angst hat. Sie will lieber, dass ihr Sohn ein Einzelkind bleibt als ein Waisenkind zu werden. Denn in Polen können Frauen nun nicht mehr auf medizinische Hilfe hoffen, sofern eine Schwangerschaft ihr Leben bedroht.

Gegen diese Angst setzen die Frauen und ihre Verbündeten auf den Demonstrationen die Forderung nach legalen Abbrüchen. So steht auf einigen der mitgebrachten Schilder „Wir wollen Wahlfreiheit statt Terror.“ oder „Wir wollen Ärzte, keine Missionare.“ Auch ist auf den Protesten immer wieder ein Slogan zu hören, der den feministischen Widerstand in Polen von Beginn an begleitete: „Ich denke, ich fühle, ich entscheide.“ Die Zusammenkünfte werden auch dazu genutzt, feministische Netzwerke weiter auszubauen. Eine Aktivistin dankte den Teilnehmer:innen dafür, dass Kontaktadressen zu Organisationen geteilt werden, die sichere Abbrüche im Ausland vermitteln (z.B. Ciocia Basia, Ciocia Czesia, aborcyjny dream team). Auf diese Weise würden viele Frauen Hilfe erfahren. So hätten sie weniger Angst, weil sie wissen, dass sie ihren Weg nicht alleine gehen müssen. Auf einer anderen Demonstration trägt eine junge Frau um ihren Körper ein Pappschild und mit dem linken Arm hoch erhoben in die Luft ein rotes Bengalo-Feuer. Auf dem Schild steht: „Die Kraft ist eine Frau.“

Die feministische Bewegung macht das politische Klima und die Rechtslage für Izabelas Tod verantwortlich. Auf einem großen Banner, das auf einer der Demonstrationen mitgeführt wurde, steht beispielsweise: „Ein paar ernsthafte Herren vergessen, dass das, was sie auf dem Papier schreiben, auf menschlicher Haut geschrieben ist. Was für sie Gegenstand von Diskussionen ist, ist eine Frage von Leben und Tod.“ Auf vielen Demonstrationen kann man lesen „Die Rechte hat Blut an ihren Händen“ oder „Ihr Tod ist eure Schuld.“ Nach einer Schweigeminute für Izabela schreien die Teilnehmerinnen in Warschau minutenlang, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen.

Im Internet kursieren Namenslisten von Politiker:innen der Partei Recht und Gerechtigkeit, die das oben erwähnte Verfassungsgerichtsurteil vorbereitet haben. Derweil leugnet die Rechte jegliche Verantwortung für Izabelas Tod und legt emotionale Kälte an den Tag. So sagte etwa Marek Suski, ein Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit: „…dass Menschen sterben, ist biologisch. Manchmal machen Ärzte tatsächlich Fehler, manchmal sind Menschen einfach krank (..). Und leider sterben auch manchmal Frauen während der Geburt. Das ist eine Sache, die einfach passiert, auch wenn wir dies natürlich niemanden wünschen.“ Andere rechte Protagonist:innen gehen in ihrer Realitätsleugnung so weit, dass sie in einer logisch nicht rekonstruierbaren Argumentation dem Feminismus die Schuld für Izabelas Tod zuweisen.

Die Proteste finden in einer hochgradig polarisierten Gesellschaft statt, in der das Voranpeitschen rechter Gesellschaftsentwürfe auf den Widerstand von politisch liberalen und feministischen Kräften trifft. Dass es insbesondere die rechten Vorstöße im Bereich der Abtreibungsgesetze sind, die mit einer immensen widerständigen Mobilisierung beantwortet werden, liegt neben der existentiellen Bedrohung für das Leben von Frauen auch daran, dass die polnische Gesellschaft bezüglich reproduktiver Selbstbestimmung auf eine relativ liberale Vergangenheit im staatssozialistischen Polen blicken kann. Entsprechend sind die Proteste nicht deutlich auf gewisse Schichten oder Altersgruppen begrenzt, sondern umfassen die gesamte polnische Bevölkerung, angefangen bei Oberstufenschülerinnen aus Warschau bis zu einfachen Angestellten kurz vor der Verrentung aus der ländlichen Provinz.

Ungerührt von Izabelas Tod hält die Rechte bislang an ihrem Plan einer weiteren Verschärfung fest. Der Abbruch soll auch dann verboten werden, wenn er Folge einer Vergewaltigung ist, und das Strafmaß für Abtreibungen soll demjenigen für Mord entsprechen. Damit das Land nicht endgültig in einer frauenverachtenden Dystopie versinkt, benötigen die Feministinnen sehr viel Kraft und einen langen Atem.

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